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SPIEGEL ONLINE Interview mit Prof. Dr. Boris Zizek

SPIEGEL ONLINE Interview mit Prof. Dr. Boris Zizek

Gedächtnis "Das Spontane, Eigene, Zufällige wird verdrängt"

https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/gedaechtnis-und-digitale-medien-das-spontane-eigene-zufaellige-wird-verdraengt-a-1277600.html

Brauchen wir überhaupt noch ein Gedächtnis, wenn unser ganzes Leben im Netz steht? Unbedingt, sagt der Erziehungswissenschaftler Boris Zizek.

Dienstag, 06.08.2019   14:56 Uhr

Zur Person

Boris Zizek, ist Geschäftsführender Leiter des Instituts für Erziehungswissenschaft der Leibniz Universität Hannover

SPIEGEL ONLINE: Was macht es mit unserem Gedächtnis, wenn wir unsere Eindrücke ständig digital abspeichern - auf WhatsApp, Instagram oder Facebook?

Zizek: Viele Fotos zu machen, eröffnet enorme Möglichkeiten: Ich kann uneingeschränkt Eindrücke sammeln von einem Motiv, das mich interessiert. Und mehr Fotos heißt auch: mehr Irritationsmöglichkeiten. Ich schaue mir die Bilder an und denke: "Ach, das war so und so" oder "Oh, da sieht der aber nicht glücklich aus!" Digitale Medien schaffen ein großes Potenzial für die bewusste Auseinandersetzung mit dem eigenen Erleben und damit für autobiografische Reflexion.

SPIEGEL ONLINE: Führt diese Fülle von Fotos nicht eher zu einer Überflutung unseres autobiografischen Gedächtnisses?

Zizek: Natürlich gibt es auch die andere Seite: Früher musste man schon beim Fotografieren eine Auswahl treffen, schließlich hatte man ja nur 12, 24 oder 36 Fotos auf der Filmrolle. Heute ist dieser Akt der Selektion aufschiebbar. Deswegen besteht das Risiko, dass die vielen digitalen Bilder, die schon Kinder knipsen, während sie an Zoogehegen vorbeieilen, später nicht intensiv betrachtet werden. Die Möglichkeit des Aufschubs entlastet dann von der Erfahrung vor Ort, die immer auch ein wenig anstrengend ist. Und so wird aus der potenziellen Erweiterung der Erfahrung eine Form der Vermeidung.

SPIEGEL ONLINE: Bewahrt dann ein digitales Fotoalbum die Erinnerungen genauso gut wie ein Album zum Anfassen?

Zizek: Ein Fotoalbum, auch ein digitales, setzt einen Rahmen - das ist das Entscheidende. Es gibt eine Begrenzung, also muss ich überlegen: Was ist mir wichtig gewesen? Wer muss auf dem Foto zu sehen sein? Welche Fotos spiegeln die Stimmung im Urlaub wider? Erst dann wird aus Protokollen der Wirklichkeit eine Gestaltung der Wirklichkeit.

SPIEGEL ONLINE: Heute gibt es den Druck, Persönliches ins Netz zu stellen, und genaue Leitbilder, wie das auszusehen hat.

Zizek: Ja, ich nenne das einen "autobiografischen Glücks- und Erfolgszwang". Damit meine ich solche Beobachtungen: Drei Mädchen verbringen eine halbe Stunde damit, ein Selfie von ihrem gemeinsamen Spaziergang zu machen. Sie laufen den Weg vor und zurück, bis alle mit dem Foto zufrieden sind. Hier wird das eigentliche Erlebnis getilgt durch das Bestreben, es als besonders gelungen festzuhalten und zu posten.

 

Es geht nicht mehr darum, gemeinsam Zeit zu verbringen, sondern Erlebnisse für andere zu inszenieren. Vielleicht um sie neidisch zu machen. Schon sehr früh trainieren Kinder heute über digitale Medien und Apps wie TikTok, sich so zu verhalten, wie sie annehmen, dass andere es als erfolgreich und glücklich einschätzen würden. Dabei wird das Spontane, Eigene, Zufällige und auch das Unglückliche verdrängt. Für eine kritische, autobiografische Reflexion, die die eigene Entwicklung fördert, sind inszenierte Fotos jedoch nur wenig wert.

SPIEGEL ONLINE: Überlagern die digital gespeicherten Bilder bald unsere eigenen Erinnerungen im Kopf?

Zizek: Das Gedächtnis ist kommunikativ, es wird also immer durch Fotos oder Erzählungen anderer modelliert. Ein Problem sehe ich aber schon in fremdgestalteten Rückblicksfilmen. Diese geben Deutungsmuster vor, die über eine relativ neutrale Protokollierung hinausgehen. Dort fließt alles ineinander über, wirkt harmonisch. Doch die Erinnerungen unseres Lebens sollten wir niemandem überlassen. Erstens, weil wir damit wirklich wichtige Dinge bewerten, und zweitens, weil wir das unbedingt selbst tun sollten, um uns nicht davon zu entfremden.

SPIEGEL ONLINE: Verändert sich denn durch die digitalen Medien die Art, wie wir uns unsere Lebensgeschichte erzählen?

Zizek: Dass Sie das eigene Leben als ein zu gestaltendes Projekt wahrnehmen, ja, dass Sie überhaupt wissen, wann es anfängt, ist eine relativ neue Erscheinung. Erst in der Moderne fing man an, stolz hervorzuheben, wann und wo man geboren wurde, und zeigte damit, dass man sich in historische Prozesse einzugliedern vermag. Das Interessante ist: Man würde ja denken, dass diese Selbstverortung zunimmt. Stattdessen ist uns schon vor zehn Jahren aufgefallen, dass Jugendliche zunehmend das Geburtsjahr weglassen, wenn sie von sich erzählen. Es gibt eine Tendenz, sich stärker auf seine Eigenwelt zu fokussieren und das Weltgeschehen auszublenden. Das ist ein Schritt weg von einer auch anstrengenden Selbstverortung.

Wir stellen eine Art der zeitlichen Verneblung fest, die mich davon befreit, mein eigenes Leben einzuordnen und an so etwas wie "Lebenslauf-Erwartungen" zu messen. Wenn ich nicht genau sehe: Okay, in vier Jahren bin ich dreißig, dann müsste ich eigentlich schon dies und jenes erreicht haben - dann entlastet mich das.

SPIEGEL ONLINE: Im Netz steht quasi unsere komplette Vergangenheit - werden wir dadurch auch zur Erinnerung gezwungen?

Zizek: Junge Menschen hinterlassen heute bereits mehr Spuren im öffentlichen Raum als einst in einem ganzen Leben. Man kann also vielen Menschen zeigen, wer man sein möchte. Doch es ist eine Herausforderung, dass öffentliche und private Räume nicht mehr so deutlich getrennt erscheinen. Es ist dadurch viel schwieriger geworden, Aspekte von sich hinter sich zu lassen. Früher konnte man notfalls in eine andere Stadt ziehen, um einen Neuanfang zu wagen. Heute ist es nahezu unmöglich, dass etwas vergessen wird.

SPIEGEL ONLINE: Das klingt lähmend.

 

Zizek: Ja, denn für Lebewesen, die sich ein Leben lang entwickeln, ist es wichtig, dass man etwas hinter sich lassen kann. Man muss Vergangenheiten haben dürfen! Es wird künftig also eine neue Form der Souveränität nötig sein, die einen sagen lässt: Ja, ich habe vor zehn Jahren diesen Blödsinn gemacht, aber das war ich einmal, das bin ich nicht mehr!